ART: Die Artikulation morphologisch komplexer Wörter
Zusammenfassung
Aktuelle kognitive Modelle der Sprachproduktion (Dell 1986 Levelt, Roelofs & Meyer, 1999) arbeiten mit der Hypothese, dass phonologische Einheiten wie Phoneme und Silben die motorischen Programmen für die Artikulation treiben. Jedoch zeigen Analysen des akustischen Signals (zB Gahl 2008) sowie Analysen der artikulatorischen Bewegungen der Zunge (zB Tomascheks et al 2014), dass die Artikulation durch die Botschaft, die wir vermitteln wollen, mitbestimmt wird. Sagen zum Beispiel Versuchspersonen "ja" zu einem Wort dass eine Bewegung nach unten ausdrückt, dann wird das /a/ mit ausgeprägter Abwärtsbewegung des Zungenkörper realisiert (Broeker 2014). Nun sind Phoneme und Silben abstrakte Einheiten, die unterschiedliche Wörter gemeinsam haben. Deshalb können sie nicht systematische Unterschiede in der Aussprache, die mit wortspezifischer Semantik kovariieren, erklären. Daher sind aktuelle dekompositionelle Modelle der Sprachproduktion nicht im Stande, die neuesten empirischen Ergebnisse zu erklären.
Wir entwickeln derzeit ein Berechnungsmodell der morphologischen Verarbeitung ("Implizite Morphologie"), das Algorithmen implementiert für Perzeption und Produktion, und dabei auf Form-Einheiten (wie Morpheme, Stämme, Exponenten, und Phoneme) verzichtet. Dieses Modell arbeitet statt dessen mit einer unmittelbaren Zuordnung von Elementen der Form (in der Regel Diphonen, Triphonen oder Halbsilben) und Lexemen (onomasiologisches Einheiten, die Cluster von Erfahrungen representieren). Wie gut das Mapping von Form und Lexem-Einheiten gelernt werden kann, wird auf der Basis großer Korpora berechnet mit Hilfe der grundlegenden Gleichungen, die Rescorla und Wagner (1972) für das assoziative Lernen formuliert haben. Implizite Morphologie postuliert auch Einheiten für die Motorprogramme der Artikulation, die mehrere Silben steuern können (Browman und Goldstein 1992, Goffman et al., 2008).
Ein erstes Ziel der hier vorgeschlagenen Forschung ist es, breitere empirische Grundlagen zu schaffen für die Details artikulatorischen Bewegungen, und zwar mittels einer Reihe von Experimenten mit elektromagnetischer Artikulographie. Durch das Anbringen kleiner metallischer Sensoren an Zunge, Lippen und Kiefer ist es möglich, mit Hilfe einer elektromagnetischen Feldes, die Bewegungen der Artikulatoren im 3D-Raum zu verfolgen. In unserem Labor haben wir festgestellt, dass diese Bewegungen Details der Sprachproduktion aufweisen, die sich nicht finden lassen in Analysen des akustischen Signals oder in chronometrischen Experimenten.
In der Literatur zur Artikulation nimmt die Koartikulation als weit verbreitetes Phänomen eine prominente Stelle ein. Wie Koartikulation innerhalb morphologisch komplexe Wörter stattfindet, ist aber bisher kaum Gegenstand systematischer Untersuchungen gewesen. Ein zweites Ziel dieses Forschungsprogramms ist es, zu klären, in welchem Umfang Koartikulation in komplexen Wörtern durch die morphologischen Eigenschaften dieser Wörter mitbestimmt wird, und nicht nur durch die einfache Kontiguität der Segmente.
Ein letztes Ziel ist es, die Sprachproduktionskomponenten im Modell der Impliziten Morphologie zu erweitern durch die Entwicklung besser motivierter Darstellungen für artikulatorische Gesten. Eine zentrale Frage ist dabei, ob Änderungen in der Amplitude und Dauer der artikulatorischen Gesten von der Erlernbarkeit dieser Gesten vorhergesagt werden können.